Rehkitzrettung – Rückblick auf eine intensive Saison
Freitag, 19. Juni 2020, 7 Uhr früh: Treffpunkt mit dem Hege-Chef für Jegenstorf, Daniel Wieland und zwei weiteren Helfern auf einem Feld im Moos zwischen Jegenstorf und Iffwil. Die letzten Tage und Wochen waren nass gewesen, doch nun öffnet sich für ein paar Tage ein Schönwetter-Fenster. In den letzten Tagen ist deshalb das Telefon bei Daniel Wieland heissgelaufen, denn er koordiniert die Rehkitzrettung in Jegenstorf. Das Oekogras muss nun dringend geschnitten werden, da sonst Fäule und Qualitätsverlust drohen.
Bevor die Landwirte mähen können, soll aber geprüft werden, ob sich nicht noch Rehkitze darin verstecken, denn das hätte fatale Folgen: Jedes Jahr werden in der Schweiz in den Monaten Mai und Juni mehrere tausend Rehkitze von Mähmaschinen getötet. Das grosse Handicap der nur wenige Tage alten Jungtiere ist, dass sie sich bei Gefahr instinktiv ducken, statt zu flüchten. Diese Taktik funktioniert sehr gut bei natürlichen Feinden wie Füchsen, ist aber nicht sehr ratsam bei einer Mähmaschine, die mit 40 km/h angebraust kommt. Sowohl Landwirt als Rehkitz sind dann chancenlos.
Deshalb stehen wir an jenem Freitag da und fliegen mit einer Drohne und Wärmebildkamera während rund 2 Stunden 6 Felder ab. Beim zweitletzten Feld passiert es: Ein verdächtiger hellgelber Punkt erscheint auf dem Bildschirm der Wärmebildkamera. Als wir uns langsam nähern, um den Punkt zu kontrollieren, springen zwei nicht mehr ganz junge Rehkitze auf, rennen etwa 10 m weg und legen sich wieder hin. Unser erster Erfolg und zweifelsohne der Höhepunkt für diese Saison! Der Landwirt wird über den Fund informiert und im Feld werden spezielle Duft-Elemente verteilt, die der Rehgeiss gar nicht gefallen und sie dazu animieren sollen, die Kitze aus dem Feld zu holen. Das Feld kann am Montag darauf ohne Zwischenfall gemäht werden.
Szenenwechsel: Es ist Ende Juli geworden und wir treffen uns nochmals mit Daniel Wieland, um über die vergangene Saison und die Rehkitzrettung im Allgemeinen zu reden:
Forum Jegenstorf: Daniel, danke dass du dir Zeit genommen hast, um mit uns nochmals auf die Saison zurückzublicken! Wie war die Saison für dich?
Daniel Wieland: Wir haben mit der Rehkitzrettung mit Drohnen nun die zweite Saison vorbei. Für mich war 2020 eine sehr gute und erfolgreiche Saison. Mein Wohlbefinden und mein Vertrauen sind in diesen beiden Jahren deutlich gestiegen. Und natürlich war ich auch sehr froh, dass wir in dem einen Feld dann noch die beiden Kitze gefunden haben. Denn es ist zwischendurch auch gut möglich, dass man für mehrere Saisons kein Kitz sieht. Aber es ist natürlich schon die Krönung unserer Arbeit, wenn man gespannt auf den Punkt am Bildschirm schaut, und dann findet man ein Kitz oder es springt sogar auf.
FJ: Was hat sich denn mit dem Einsatz der Drohne verändert im Vergleich zu früher? Rehkitzrettung wird ja schon seit Jahrzehnten betrieben.
DW: Man gewinnt an Sicherheit. Wir haben in Jegenstorf letztes Jahr mit der Rehkitzrettung durch Drohnen begonnen. Das erste, das ich damals auf dem Schirm sah, war ein Fuchs und der war so gut sichtbar! Das hat mich fasziniert und gab mir auch die Sicherheit: „Wenn er drüber geflogen ist, kannst du ruhig schlafen!“. Die Sicherheit, die Geschwindigkeit, die Verlässlichkeit – das hat massiv zugenommen. Für mich ist das die Zukunft.
Früher haben die Bauern auch noch sehr viel selber gemacht. Man hat dann mit mechanischen und chemischen Massnahmen versucht, das Muttertier so stark zu verängstigen, dass es seine Kitze aus dem Feld führte. Mit diesen damaligen Mitteln konnten auch schöne Erfolge gefeiert werden. Aber es ist Fakt: Wir hatten immer mal wieder ein Rehkitz, das einen Meter oder zwei neben uns lag und das wir nicht gesehen haben bei der Absuche zu Fuss.
Mit der Drohnentechnik folgt die Rehkitzrettung in einem gewissen Masse auch der allgemeinen Technisierung in der Landwirtschaft nach: Wir haben heute viel schlagkräftigere Maschinen und Trocknungsanlagen. Somit gewinnt man gegenüber früher bei der Heuernte etwa einen Tag und dadurch kann man auch schon kleinere Schönwetterperioden nutzen, was sich auch auf den Zeitdruck auswirkt. Dieser erhöhten Schlagkraft in der Landwirtschaft kommen wir mit der Drohnentechnik nun ebenfalls sehr nahe und können dadurch mithalten. Und trotzdem: 100 % Schutz gibt es nie und man ist immer froh, wenn das Gras gemäht ist und kein Telefon kommt.
FJ: Was ist denn die Reaktion der Landwirte auf die neue Technik?
DW: Die Reaktion ist sehr gut. Letztes Jahr haben wir die Landwirte eingeladen und ihnen die Technik gezeigt. Denn die Arbeit ist nun weniger sichtbar: Man sieht nicht mehr aufgehängte Futtersäcke von den Vergrämungsmassnahmen oder Spuren im Gras vom Absuchen. Die Landwirte sind aber auch aus anderen Bereichen der Landwirtschaft, beispielsweise im Pflanzenschutz oder dem Nützlingssektor immer mehr in Berührung mit der Drohnentechnik. Für eine erfolgreiche Rehkitzrettung mit Drohne ist das vorausschauende Handeln der Landwirte jedoch absolut zentral. Denn nach wie vor ist der Einsatz der Wärmebildkamera aufgrund der Temperaturunterschiede auf den frühen Morgen oder späten Abend beschränkt. Das funktioniert hier in Jegenstorf grundsätzlich jedoch sehr gut. Die Landwirte verlassen sich, da wo sie die Rehkitzrettung nicht selber ausführen, auch voll auf uns.
FJ: Siehst du an der Methode mit der Drohne auch Nachteile?
DW: [überlegt lange] Rein von der Technik her haben wir einen Nachteil, ja. Wir haben den Nachteil, dass wir zeitlich sehr eng gebunden sind aufgrund der Temperatur. Das ist aber nur bedingt ein Nachteil und mit einer guten Planung und einem Verständnis für die Technik machen wir ihn längst wieder wett. Ein anderer Punkt, den es nicht zu vernachlässigen gilt, sind die Anschaffungskosten. Ein Futtersack oder ein Leintuch für die Vergrämung sind praktisch gratis, aber die Anschaffung einer solchen Drohne kostet schon eine Stange Geld. Alles in allem wiegen die Vorteile die Nachteile jedoch in meinen Augen bei Weitem wieder auf.
FJ: Was sagst du Kritikern, die sagen „Die ganze Rehkitzrettung ist nur eine Werbeaktion der Jäger. Im Herbst werden die geretteten Tiere ja dann sowieso geschossen“?
DW: Ja, das mag für einige Leute seltsam anmuten und den Vorwurf hört man auch ab und zu wieder. Es ist auch absolut richtig, wir schiessen Rehe im Herbst. Das sind für mich aber ganz klar zwei Paar Schuhe, denn hier geht es primär auch um das Tierleid. Wenn ich im Herbst ein Tier schiesse, dann mache ich das nur, wenn ich mir absolut sicher bin, und für das Tier ist das ein schneller, schmerzloser Tod. Bei einem Mähtod ist das in den wenigsten Fällen so: Mit der Mähmaschine werden beispielsweise Läufe abgeschnitten oder Bäuche geöffnet. Und die Tiere sind in den wenigsten Fällen sofort tot. Das ist eine meiner Motivationen, weshalb ich diese Arbeit mache. Es geht mir hier um das Verhindern von Tierleid sowohl beim Reh als auch bei den Kühen, die sonst das mit Botulin (Leichengift) vergiftete Heu fressen und daran zugrunde gehen können.
FJ: Wie viele Rehe gibt es in und um Jegenstorf überhaupt?
DW: Wie viel Wild es pro Gemeinde gibt, kann nicht mit Sicherheit gesagt werden. Was man aber weiss, ist, dass unsere Region – der ganze Jura-Südfuss von der Solothurner Grenze bis ins Seeland (Wildraum 3&4) – mit 9’000 bis 9’500 geschätzten Tieren die wildreichste Rehregion im Kanton Bern ist. Im ganzen Kanton sind es rund 25’000 bis 30’000 Rehe. Diese Wildzahlen basieren auf Wildzählungen, die jährlich im März/April an zwei Nächten in einem ausgewählten Perimeter durchgeführt werden. Mittels Hochrechnungen aus diesen Zählungen wird dann der Frühlingsbestand inkl. Jungwild ermittelt.
FJ: Hattest du ausser jetzt mit der Rehkitzrettung sonst schon mal Kontakt zum Forum Jegenstorf?
DW: Um ehrlich zu sein: Als ich das erste Mal von dir und damit vom Forum gehört habe, musste ich zuerst mal googeln. Bis zu dem Moment wusste ich nicht mal, dass es diesen Verein gibt – Schande über mich! Anfänglich war ich auch etwas skeptisch und dachte mir „Aha – was ist das jetzt?“ Ziemlich schnell zeigte sich jedoch, dass da viel Engagement dahinter ist und es mit der Zusammenarbeit einfach passt. Ich finde es eine gute Sache und diese Art von Zusammenarbeit ist absolut nicht selbstverständlich.
FJ: Vielen Dank für das Gespräch; wir freuen uns bereits auf die Saison 2021!
Seit 2017 organisiert der Verein Rehkitzrettung Schweiz die Vernetzung und die Ausbildung von Drohnenpiloten und die Weiterentwicklung von Technik und Methode. Weitere Informationen dazu finden sich auf www.rehkitzrettung.ch.
Für die Landwirte ist die Rehkitzsuche kostenlos – sowohl die klassische Suche mit Hunden als auch die Drohnensuche. Landwirte, die bis anhin noch nicht mit der Rehkitzsuche zu tun hatten, dieses Angebot aber künftig gerne nutzen möchten, setzen sich bitte mit Daniel Wieland in Verbindung (daniel.wieland67@gmail.com).